Im Oktober 2004 eröffnete im Pekinger Militärhospital Chinas erste Suchtstation für Internet- und Spielegeschädigte. Seitdem wurden dort über 300 Süchtige geheilt, sagt die Verwaltung des Krankenhauses. Erstmals wurden nun Bilder aus dem Therapiebetrieb veröffentlicht
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Die Fotos, die heute über die Nachrichtenagentur AP in alle Welt verbreitet wurden, muten an wie Szenen aus einem Film: Da wird ein Zwölfjähriger mit Elektroschocks und Infusionen gegen Internet-Sucht behandelt, da sitzen junge Leute mit anonymisierten Gesichtern im Therapiegespräch mit einer strengen Schwester. Unwillkürlich fallen einem da die zahlreichen Zwangsmaßnahmen ein, die China in den letzten Jahren gegen das Web und seine Nutzer verhängt hat: Die massenhafte Schließung von Internet-Cafés, die Zensur ausländischer Nachrichtenangebote, die Gefangennahme missliebiger Journalisten, Blogger und Systemkritiker.
Möglicherweise greift das zu kurz.
Längst stellt China mit 94 Millionen Internetnutzern den zweitgrößten Teil der Internetpopulation nach den USA; über 22 Millionen von ihnen sollen zudem Online-Spieler sein. Da jubiliert die Industrie, denn bereits im letzten Jahr sollen Chinas Daddler stolze 500 Millionen Dollar für Online-Spiele ausgegeben haben. Das alles ist für Rekorde gut: Allein im Multiplayer-Online-Spiel "World of Warcraft" sollen sich einmal 450.000 Chinesen eingeloggt haben - und zwar gleichzeitig.
Wenn man anerkennt, dass sowohl exzessives Spielen, als auch exzessive Web-Nutzung durchaus suchtähnliche Symptome verursachen können, ist es dann wirklich unwahrscheinlich, dass es Hunderte von Therapiebedürftigen gibt?
Heiß diskutiert werden in der chinesischen Öffentlichkeit die Fälle von Xiao Yi, dem 13-Jährigen, der sich Ende letzten Jahres von einem Hochhaus stürzte, um im Tod mit seinen virtuellen Freunden vereinigt zu sein, und dem Rollenspieler Qiu Chengwei (41), der einen Freund und Mitspieler erstach, weil dieser ein virtuelles Schwert ohne seine Erlaubnis verkauft hatte. Ohne Frage Extreme, bei denen Suchtsymptome mit erheblichem Realitätsverlust einhergehen.
China: Mit Elektroschocks gegen Internet-Sucht
"Mein Kind war wie jemand auf Drogen, der sich selbst nicht mehr kontrollieren kann", sagte Xiao Yi's Vater der Presse nach dem Todessprung seines Sohnes. "Wir haben uns große Sorgen um ihn gemacht, aber wir wussten wenig über das Internet und wir wussten nicht, wie wir ihn retten sollten."
Chinas jugendliche Surfer und Spieler: Süchtige, denen nur Hilfe von außen noch ein normales Leben ermöglichen kann?
Über 300 von ihnen, heißt es im Pekinger Militärhospital, das die erste staatlich anerkannte Therapie gegen Internet- und Spielsucht anbietet, habe man seit Oktober 2004 schon "geheilt". Elf Ärzte und ein Dutzend Schwestern kümmern sich um die 14- bis 24-jährigen Patienten, die sich teils freiwillig einweisen ließen, teils von ihren Eltern eingewiesen wurden. Billig ist das nicht. Der Preis von 48 Dollar pro Therapietag macht in einem Land, in dem der wöchentliche Durchschnittsverdienst bei 20 Dollar liegt, klar, wem hier geholfen wird - und wem nicht.
Millionen von Süchtigen?
Alle diese Jugendlichen, daran hat Tao Ran, Direktor der Suchtstation, keinen Zweifel, sind krank. "Diese Kinder hier haben ihre Schulen verlassen, weil sie jeden Tag in Chatrooms oder mit Spielen verbrachten. Sie leiden an Depressionen, an Nervosität, Angstzuständen und Panikgefühlen, sie sind unruhig und haben Probleme, mit anderen zu interagieren. Außerdem haben sie Schlafstörungen, zitternde oder taube Hände."
Die jugendlichen Patienten bestätigen das. Sie erzählen Geschichten von 24-Stunden-Sessions vor dem Rechner, vom Verlust sozialer Kontakte, von zunehmenden Problemen in Schule oder Beruf. Sie lassen sich für zehn bis fünfzehn Tage auf die Therapie ein, die auch Behandlungen mit Strom (30 Volt) und Infusionen unbekannten Inhalts einschließt.